Muntermacher 12.10.2023

OKT. 2023, AUSGABE 3

Das Erzählen von Geschichten offenbart Sinn, ohne den Fehler zu begehen,
diesen zu definieren


Hannah Arendt

Muntermacher

Die Philosophin lobt hier die Dichter, die Schriftstellerinnen, die in der glücklichen Lage sind, Sinn zu vermitteln, ohne dies aus­sprechen zu müssen. Damit ersparen wir einander Miss­ver­ständnisse und eng geführte Debatten.
 
Im Gegenteil: Durch Geschichten ent­stehen Räume der Weite, in de­nen Menschen zueinander finden kön­nen, mehr als durch Meinungs­um­fra­gen und poli­tische Diskussionen. In un­ter­schied­lichen Epochen kann die In­ter­pretation einer Ge­schichte zu­dem aktualisiert werden. 
 
So können wir unsere Werte prüfen: Sind wir sattelfest? Sind unsere Werte auch in Notlagen parat, sind sie auf Extrem­si­tua­­tionen geeicht? Denn genau dann kommt es meist darauf an. Wie hät­ten wir in dieser oder jener Kon­flikt­situa­tion gehandelt? Niemand kann uns hier eine Antwort geben, wir müs­sen sie selbst finden. Die Be­deutung von Geschichten geht aber noch viel weiter. Unser Gehirn arbeitet immer mit Geschichten und glie­dert je­den Umstand und jede Neuigkeit, denen wir be­gegnen, in ein Narrativ, eine Erzählung, ein. 
Ist etwas gut und nützlich oder gefährlich für uns? 
 
Die Ge­schich­­te unseres Lebens, die Geschichte, die wir uns selbst da­rüber erzählen, sie ordnet die Dinge und lässt uns ent­spre­chend auf Neues reagieren: mit Freude und Zuversicht oder Angst und Misstrauen. Daher ist es wichtig, diese Ge­schichten zu erforschen. Sind sie noch aktuell? Erzählen wir uns vielleicht selbst etwas, was schon lange nicht mehr angemessen ist?
 
Auch im Umgang mit anderen sind Geschichten entscheidend. Nur durch sie entsteht eine Brücke. Wer diese bauen möchte, muss als ersten Schritt: zuhören. Es geht eben nicht nur darum, herauszu­finden, was jemand glaubt und für richtig hält, son­dern warum das so ist. Welche Lebensgeschichte hat den Menschen dorthin gebracht? Erst, wenn wir einander auf diese Weise zuhören, entsteht Verständnis. „Es ist schwer, jemanden nicht zu mögen, sobald wir seine Geschichte kennen“, wusste Fred McFeely Rogers.
 
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Ausgabe 2022